Ziele des Forschungsprojekts

Das Forschungsprojekt DeMiCo untersucht die soziale Konstruktion des Phänomens „Dequalifizierung“ unter Migrant*innen. Im Zentrum stehen dabei die Handlungsmacht von Akteur*innen, deren Deutungszusammenhänge und Lösungsstrategien. Über einen Zeitraum von zwei Jahren werden hochqualifizierte Migrant*innen aus ‚neuen‘ EU-Mitgliedsstaaten, die in Wien leben bzw. arbeiten, in drei Wellen interviewt und zu ihren Erfahrungen bei der Arbeitssuche und am Arbeitsmarkt befragt. Durch Interviews mit Berater*innen verschiedener Institutionen, die in ihrem Berufsalltag mit Dequalifizierung in Berührung kommen, wird eine weitere Perspektive auf das Phänomen einbezogen. Durchgeführt werden außerdem ethnographische Beobachtungen in diesen Institutionen.

"Dequalifizierung" von Migrant*innen

Von Dequalifizierung betroffen sind nicht nur Migrant*innen, doch diese sind im Vergleich überproportional häufig unter dem eigenen Ausbildungsniveaus beschäftigt (Visintin et al. 2015, Arslan et al. 2015, Galgóczi et al. 2012, OECD 2014, Spielvogel & Meghnagi 2018, Gächter 2006, 2016, 2012, Eurostat 2017a, Sirkeci et al. 2018). Der Arbeitskräfteerhebung (Eurostat 2016) zufolge arbeitete über ein Drittel der EU-Binnenmigrant*innen mit tertiärem Bildungsabschluss in einem Beschäftigungsverhältnis unter ihrem Ausbildungsniveau, verglichen mit etwa einem Fünftel der Arbeitskräfte ohne Migrationsgeschichte. Dieser Prozentsatz ging zwar bei Migrant*innen aus Drittstaaten zurück, stieg jedoch seit 2008 bei mobilen EU-Bürger*innen signifikant an. In der Literatur wird dieses Phänomen unter den Begriffen Dequalifizierung, Mismatch, Over-qualification, Over-education, Over-schooling und Downward professional mobility diskutiert (siehe z.B. Cardu 2015, Mollard & Umar 2015, Visintin et al. 2015). Im Rahmen unseres Forschungsprojekts definieren wir Dequalifizierung/‚Deskilling‘ als das Ausüben einer Beschäftigung, für die eine niedrigere Qualifikation vorausgesetzt wird als der höchste erworbene Bildungsabschluss der jeweiligen Person (vgl. Cardu 2005). Im Zentrum unserer Forschung stehen Migrant*innen aus ‚neuen‘ EU-Mitgliedsstaaten (jene Länder, die im Zuge der EU-Erweiterungen 2004 und 2007, der EU beitraten) mit tertiärem Bildungsabschluss. Studien zeigen, dass mobile Bürger*innen aus diesen Ländern überdurchschnittlich hoch qualifiziert und zugleich überproportional häufig von Dequalifizierung betroffen sind (Visintin et al. 2015, Sirkeci et al. 2018, Johnston et al. 2015).

Unser Forschungsansatz

In der Literatur wurde das Phänomen „Dequalifizierung“ bisher meist aus Makroperspektive behandelt. Noch weniger untersucht wurden hingegen die individuellen Motive von hochqualifizierten Migrant*innen für die Ausübung niedriger-qualifizierter Beschäftigungen sowie die individuelle Handlungsmacht und Lösungsstrategien in diesem Zusammenhang. Das Projekt DeMiCo setzt hier an und zielt darauf ab, die konkreten Mechanismen und Mikroprozesse zu untersuchen, die zur Herstellung von Dequalifizierung beitragen. Wir diskutieren ‚skills‘ und ‚deskilling‘/Dequalifizierung dabei als soziale Konstrukte, die je nach Kontext unterschiedlich bewertet werden.

In unserem Projekt nehmen wir daher einen qualitativen, akteurs - und prozessorientierten konstruktivistischen Forschungsansatz ein, um die Herstellung von Dequalifizierung zu untersuchen. Wir kombinieren verschiedene Methoden: eine qualitative Longitudinalstudie mit Migrant*innen aus Rumänien, der Tschechischen Republik und Ungarn, die in Wien leben und arbeiten (drei Interviewwellen); problemzentrierte Interviews mit Berater*innen verschiedener Institutionen, die in ihrer Arbeit mit dem Thema konfrontiert sind; sowie ethnografische Beobachtungen in diesen Institutionen.

Unsere Forschungsansatz sieht die Analyse sowohl des sozialen und institutionellen Kontextes als auch der Handlungsmacht von Migrant*innen vor. Der Kontext wird über die Perspektiven der Berater*innen und Institutionen sowie die Erfahrungen der Migrant*innen erforscht. Hinsichtlich der Untersuchung der Handlungsmacht werden einerseits die individuellen Erfahrungen mit Dequalifizierung bzw. Dequalifiziert-Sein einbezogen, andererseits die individuellen und kollektiven Ressourcen in den Blick genommen, die in diesem Zusammenhang aktiviert werden (etwa Bildung, Qualifikationen, soziale Netzwerke). Durch die Verbindung dieser beiden Perspektiven und Analysen wird das Phänomen der Dequalifizierung unter ‚neuen‘ EU-Migrant*innen im Wechselspiel von institutionellen Strukturen und Handlungsmacht beleuchtet.

Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats

  • Vincent Dubois (University of Strasbourg)
  • August Gächter (Centre for Social Innovation, Vienna/Austria)
  • Johanna Hofbauer (Vienna University of Economics and Business)
  • Bozena Sojka (University of Wolverhampton)
Literatur

Arslan, Cansin, Jean-Christophe Dumont, Zovanga Kone, Yasser Moullan, Caglar Ozden, Christopher Parsons, and Theodora Xenogiani. 2015. "A New Profile of Migrants in the Aftermath of the Recent Economic Crisis."  OECD Social, Employment and Migration Working Papers 160. doi: doi:https://doi.org/10.1787/5jxt2t3nnjr5-en.

Cardu, Hélène. 2015. "Resilience strategies used by immigrant women facing professional deskilling in Quebec: A literature review and a small-scale study." In Crushed hopes, edited by International Organization for Migration, 139-161. Geneva/Ottawa: International Organization for Migration.

Eurostat. 2016. "First and second-generation immigrants - statistics on education and skills." Eurostat, accessed 05/11/2018. ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php.

Eurostat. 2017a. "Migrant Integration Statistics" (edited by Piotr Juchno and Mihaela Agafitei). Luxembourg: Eurostat.

Galgóczi, B., J. Leschke, and A. Watt. 2012. EU Labour Migration in Troubled Times: Skills Mismatch, Return and Policy Responses: Ashgate Publishing Limited.

Gächter, August. 2006. "Migration and the Austrian Labour Market in an Enlarging European Union." A regional approach to free movement of workers: labour migration between Hungary and its neighbouring countries, Szeged.

Gächter, August. 2012. "Inakzeptable Ungleichheiten am Arbeitsmarkt."  Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität Nr. 23.

Gächter, August. 2016. "Die Attraktivität von Arbeitskräften aus den EU-Mitgliedsstaaten 2004 und 2007."  Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität Nr. 31.

Johnston, Ron, Nabil Khattab, and David Manley. 2015. "East versus West? Over-qualification and Earnings among the UK's European Migrants."  Journal of Ethnic and Migration Studies 41:218. doi: 10.1080/1369183X.2014.935308.

Mollard, Blandine, and Sanober Umar. 2015. "Gender, migration and deskilling. A broad review of the literature." In Crushed hopes, edited by International Organization for Migration, 11-36. Geneva/Ottawa: International Organization for Migration.

OECD. 2014. International Migration Outlook 2014. Paris: OECD Publishing.

Sirkeci, Ibrahim, Necla Acik, Bradley Saunders, and Andrej Přívara. 2018. "Barriers for Highly Qualified A8 Immigrants in the UK Labour Market."  Work, Employment and Society 32:924. doi: 10.1177/0950017017726912.

Spielvogel, Gilles, and Michela Meghnagi. 2018. The contribution of migration to the dynamics of the labour force in OECD countries: 2005-2015. In OECD Social, Employment and Migration Working Papers. Paris: OECD Publishing.

Visintin, Stefano, Kea Tijdens, and Maarten van Klaveren. 2015. "Skill mismatch among migrant workers: evidence from a large multi-country dataset."  IZA Journal of Migration 4 (14).